Unser Geist produziert fortwährend Gedanken. Manche von ihnen beziehen sich auf unsere Vergangenheit und mit ihr verbundene Erfahrungen – wir schwelgen in Erinnerungen. Manche von ihnen beziehen sich auf unsere konstruierte Zukunft und mit ihr verbundene Wünsche, Hoffnungen oder Befürchtungen.
Eines haben beide Muster gemeinsam: sie gehen mit dem Verlust an Gegenwärtigkeit einher. Dafür zahlen wir einen hohen Preis – wir verlieren Konzentration, Achtsamkeit, aktives Engagement und Kontakt. Kurzum: die Kraft und Magie der unmittelbaren Erfahrung im Hier und Jetzt bleibt uns verborgen.
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„Ich meditiere täglich“, höre ich von vielen meiner Patient(innen) im Erstgespräch. Die meisten von ihnen leiden unter Ängsten, Depressionen und psychosomatischen Beschwerden. „Wunderbar! Haben Sie dadurch eine Entlastung erfahren?“, frage ich gerne. Die häufigste Antwort lautet: „Ich fühle mich in der Meditation entspannter, aber die Wirkung hält leider im Alltag nicht an.“
Woran liegt das? Was ist überhaupt Meditation und welche Ziele verfolgt sie? Welche Meditationsarten gibt es und wie finde ich zu der für mich passenden Meditationspraxis?
Welchen meditativen Praktiken liegt eine religiöse Weltanschauung zugrunde? Welche Rolle spielt Meditation in der Psychotherapie? Gibt es Kontraindikationen?
Mein persönlicher Weg
Bei meiner ersten Begegnung mit Yoga und Meditation war ich 16 Jahre alt und mitten in der Selbstfindung. Ich wollte das Leben verstehen und die Welt verbessern. Mit 21 Jahren nahm ich die buddhistische „Zuflucht“ (Trisharana) und praktizierte täglich teils mehrere Stunden Meditationsübungen, die von meinen Lehrern übermittelt wurden.
Ich fühlte mich großartig und besuchte regelmäßig Meditationsretreats, in denen wir bis zu 10 Stunden praktizierten. Da ich zu dieser Zeit noch studierte, ließen sich alle Pflichten der „äußeren Welt“ mit meinen inneren Sehnsüchten gut vereinbaren.
Als ich dann meine erste Privatpraxis in meiner Heimatstadt Frankfurt am Main eröffnete, war Meditation nebst allen körperlichen Therapieverfahren die Methode, mit der ich psychosomatische Beschwerden lindern wollte. Damals dachte ich: Psychische Probleme sind die Folge fehlender oder unzureichender Meditationspraxis. So hatte ich es von meinen Lehrern in Indien und in Europa immer wieder gelernt.
Leider funktionierte diese Methode nur unzufriedenstellend. Viele Patienten konnten oder wollten nicht „meditieren“, manche erlebten in der Übung Symptomverstärkungen. Also begab ich mich auf die Suche nach neuen Wegen, in denen traditionelle Meditationspraxis und moderne psychologische Wissenschaft keine Gegensätze, sondern Synergien darstellen. Ich studierte 10 Semester Psychologie und bildete mich psychotherapeutisch fort. Auch meine eigene Übungspraxis hat sich seitdem verändert: sie ist puristischer geworden und hat sich von ideologischen Einschränkungen befreit.
Achtsam im Hier und Jetzt
Unsere flexible Aufmerksamkeit umfasst die Fähigkeit der fokussierten Konzentration und raumgreifenden Achtsamkeit. Sie kann sich auf unsere Innenwelt oder auf unsere Außenwelt beziehen. Gegenwärtigkeit ist die Grundlage unserer Eigenwahrnehmung und zugleich ein Antidot für das Leben in der Vergangenheit oder Zukunft.
Achtsamkeit verbindet als eine Art Panorama-Bewusstheit unsere Aufmerksamkeit mit der akzeptierenden Bereitschaft für Alles, was im Moment geschieht. Wir bleiben offen, neugierig, flexibel, nicht urteilend und liebevoll – zu uns selbst und unserer Umwelt.
Achtsamkeit ist die Basis jeglicher Meditationspraxis. Meditation ohne Achtsamkeit ist unmöglich. Achtsamkeit ohne Meditationspraxis hingegen sehr wohl!
Entspannung ist eine häufige Folge von Achtsamkeitsübungen und Meditation, sie ist aber nicht ihr Ziel. Wenn wir achtsam unsere Gedanken und Gefühle wahrnehmen, können diese auch schmerzhaft sein. Viele Entspannungsverfahren wirken sogar gegensätzlich und können unsere Achtsamkeit reduzieren.
Wir können Achtsamkeit und Konzentration in alltäglichen Handlungen üben:
- in der täglichen Körperreinigung, Rasur, Hautpflege oder beim Zähneputzen,
- bei der Zubereitung und dem Verzehr von Nahrung und dem anschließenden Abwasch,
- bei sportlichen Aktivitäten oder der regelmäßigen Yoga-Praxis,
- beim Besuch eines Konzertes oder einer Theaterveranstaltung,
- beim Laufen, Fahren, Liegen, Stehen und Warten.
Eine der beliebtesten und wirkungsvollsten Achtsamkeitsübungen ist die Beobachtung unserer Atmung und des mit ihr verbundenen Luftstroms, der an der Nasenspitze kommt und geht, unseren Brustkorb oder unsere Bauchdecke hebt und senkt.
Halten Sie nun – bevor Sie weiterlesen – einen Moment inne und achten Sie auf Ihre Atmung, ohne sie zu beeinflussen. Lassen Sie dabei Gedanken und Geräusche wie Wolken am Himmel vorbeiziehen, ohne sie zu beurteilen. Was nehmen Sie wahr?
Eine zweite Achtsamkeitsübung, die Ihr Leben und alle sozialen Beziehungen verändern wird, ist die achtsame Kommunikation.
Kennen Sie das: Sie kommunizieren mit Freunden, Bekannten, Kollegen oder Verwandten und spüren, dass Ihr Gegenüber trotz Augenkontakt abwesend scheint? Ihr Gefühl trügt Sie nicht: Viele Menschen hören nicht aufmerksam zu. Entweder verhaken sie sich in Gedanken an Vergangenes oder Zukünftiges oder sie bereiten sich während dem „Zuhören“ auf ihre nächste Äußerung vor.
Lernen Sie, achtsam zuzuhören und Ihren Gesprächspartner mit allen Sinnen wahrzunehmen. Vertrauen Sie Ihrem Geist, der weitaus tiefgründigere und authentischere Botschaften ganz spontan und mühelos erzeugt, wenn Sie ihn nicht reglementieren.
Weg vom Kissen – Rein ins Leben
Viele Meditierende legen großen Wert auf ihre Meditationsumgebung. Auch ich gehörte dazu und liebte meine nach Nordosten ausgerichtete Meditationsinsel mit Altar, Buddhastatuen, Kissen, Decken und spirituellem Equipment (Glocke, Zepter, Mala, Räucherwerk u.v.m.). Rituale wirken, das ist unbestritten. Aber brauchen wir sie auch?
Meditation ist überall und jederzeit möglich, wenn wir uns für sie öffnen – sogar auf einer Baustelle mit ohrenbetäubendem Lärm. Ich bevorzuge heute Formen, die losgelöst sind von Bildern und Gegenständen aus östlichen Kulturen. Das erzeugt weniger Irritation und erreicht viel mehr Menschen, die mit der Anbetung von Gottheiten oder Rezitation von unbekannten Mantren Schwierigkeiten haben.
Der Lotussitz ist keine Voraussetzung für eine gelungene Meditation! Meine morgendliche Praxis findet auf dem Sofa unseres Wohnzimmers statt, tagsüber zentriere ich mich zwischen zwei Patienten an meinem Schreibtisch. Ob Sie auf einem Stuhl sitzen oder flach auf dem Boden liegen, meditativ gehen oder tanzen – Meditation ist ein geistiger Prozess und von körperlichen Fähigkeiten weitgehend unabhängig.
Meditation JA – aber welche?
Wir können meditative Praktiken grob in zwei Gruppen einteilen:
- Passive Methoden wie die stille Meditation oder Achtsamkeitsmeditation
- Aktive Methoden wie die Bewegungsmeditation, Visualisation oder Rezitation
Probieren Sie beide Methoden aus, um zu erfahren, welche aktuell besser passt. Erfahrungsgemäß eignen sich aktive Formen für Diejenigen, deren Geist zu starker Unruhe und Ablenkung neigt. Wenn wir den Fokus auf eine Handlung legen, lässt sich dieser Geist zentrieren, in einer Ruhemeditation spielen die Gedanken oft Ping-Pong.
Die stille Atemmeditation und Techniken der Selbstbeobachtung, wie sie in der Vipassana Tradition gelehrt werden, sind äußerst kraftvoll und zugleich konfrontierend. Unser Geist schweift dabei immer wieder ab und das ist auch völlig in Ordnung. Wir holen ihn wieder liebevoll zurück ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Je mehr wir üben, desto zentrierter werden wir.
Sie können zu Hause starten, indem Sie einer Anleitung über das Internet oder einer Audiodatei folgen. Oder Sie starten in einer der vielen Gruppenangebote an Ihrem Wohnort. Der Austausch mit einem Lehrer und Gleichgesinnten wirkt oft motivierend, verstärkend und klärend. Welche Art Sie auch bevorzugen, fangen Sie einfach an! Oft ergeben sich die nächsten Schritte, wenn der erste gemacht wurde.
Es gibt weltanschaulich gebundene und ungebundene Angebote. Erste stammen häufig aus buddhistischen und hinduistischen Traditionen in Indien, Sri Lanka, Südostasien, China und Japan. Prüfen Sie vor Beginn, ob die mit der Praxis verbundenen Glaubenssätze für Sie stimmig sind – falls nicht, empfehle ich ideologiefreie Angebote wie MBSR (mindfulness based stress reduction) nach Dr. Jon Kabat-Zinn.
Meditation in der therapeutischen Praxis
Meditation ist kein Entspannungsverfahren und auch keine Selbsttherapie psychischer Störungen. Wenn Sie unter starken Ängsten, traumatischen Bildern, schweren Depressionen, Persönlichkeitsstörungen oder Psychosen leiden, sollten Sie zuerst einen fachkundigen Therapeuten konsultieren, bevor Sie mit einer Meditationspraxis beginnen.
Meditation führt zu wacher Bewusstheit. Es gibt mittlerweile zahlreiche Forschungen zu den Wirkungen regelmäßiger meditativer Praxis. Hierzu zählen unter anderem die
- Verbesserung der Stressbewältigung und Senkung des Cortisolspiegels
- Veränderung des Verhältnisses zu Schmerzempfindungen
- Reduktion von Entzündungsparametern und Immunmodulation
- Beeinflussung der Zellalterung durch Reduktion der Telomerenverkürzung
- Verbesserung der neuronalen Plastizität und antidepressive Wirkung
- Förderung einer gesunden Schlafarchitektur und vegetativer Balance
- Steigerung von sozialer Intelligenz, Gelassenheit, Verbundenheit, Mitgefühl und Liebe
Stellen Sie Ihrem Therapeuten, der Meditation in seiner Praxis anbietet, drei Fragen:
- Wann haben Sie wo und von wem Meditation erlernt?
- Welche eigenen Meditationserfahrungen haben Sie?
- Welche Weltanschauung liegt Ihrer angebotenen Meditationspraxis zugrunde?
Alle drei Fragen sollten direkt und unmissverständlich beantwortet werden. Entscheiden Sie auf dieser Basis, ob Sie mit einer ersten Übung starten möchten.
Der Verlust an Gegenwärtigkeit ist allgegenwärtig!
Wenn wir eine stark herausfordernde oder bedrohliche Situation erleben, hilft keine Entspannungstechnik. Stattdessen können wir diesen Momenten mit achtsamer Gegenwart begegnen und ruhig, liebevoll und ausgerichtet handeln – auch wenn wir uns alles andere als ruhig fühlen.
Meditation hilft uns, einen inneren Beobachter zu entwickeln, der die Ereignisse auf der Bühne unseres Lebens verfolgt, ohne sich mit ihnen zu identifizieren oder von ihnen bestimmen zu lassen. Dieser Prozess ist heilsam, macht frei und öffnet das Tor zu tiefer Erkenntnis über unsere wahre Natur und aller Phänomene.
Mit den besten Wünschen für Ihre Gesundheit,
Ralph Steuernagel
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