Untersuchungsmethoden im Ayurveda: 7. Die Anamnese

Unsere Rundreise durch die ayurvedischen Untersuchungsmethoden und Diagnosetechniken begann mit der Pulsdiagnose und führte uns über die Zungeninspektion, die Analyse der Ausscheidungen, die Untersuchung durch Hören und Fühlen bis zur Augen- und Antlitzdiagnose.

Den Abschluss unserer Reise bildet nun die ayurvedische Anamnese, Prashna Pariksha genannt. Prashna bedeutet Frage, Pariksha Untersuchung. Das Wort „Anamnese“ stammt aus dem Griechischen und heißt „Erinnerung“. Der Therapeut befragt den Patienten systematisch, um dessen Leidensgeschichte zu erfassen und analytisch zu verstehen.

Die Anamnese (Prashna Pariksha) und die 8 Untersuchungsverfahren (Puls, Urin, Stuhl, Zunge, Hörbares, Fühlbares, Augen und Antlitz) mittels der fünf Sinne des Therapeuten (Panchendriya Pariksha) bilden zusammen die ayurvedische Diagnostik (Nidana).

Im klassischen Ayurveda wurde keine Systematik einer Anameseführung beschrieben. Meine Darstellung basiert daher auf den Erfahrungen meiner Lehrer und Kollegen und meiner eigenen 20-jährigen Praxistätigkeit.

Zeit für den Menschen und das Gespräch

Erstanamnesen in westlichen Arztpraxen dauern oft nicht länger als 15 Minuten, in denen die wesentlichen Beschwerden im Mittelpunkt stehen. Daran schließen sich körperliche, apparative und laboratorische Untersuchungen an, um zuletzt eine Diagnose zu stellen.

In der Ayurvedamedizin stellt Roga Pariksha, die Untersuchung der Krankheit(en), nur eine, weniger bedeutsame Seite der Diagnostik dar. Die wichtigere Seite ist Rogi Pariksha, die Untersuchung des erkrankten Menschen. Nicht die Krankheit, sondern ihr Träger mit seiner Konstitution und ganzen Biographie steht im Fokus unserer Aufmerksamkeit.

Das wichtigste Gut unserer diagnostischen Arbeit ist Zeit und ungestörte Aufmerksamkeit. Nur so können wir den Menschen als Ganzes empathisch erfassen, Ursachen und Wirkungen erkennen und eine gemeinsame Strategie zur Auflösung von Leid entwickeln.

Der Aufnahmebogen

Wenn Patienten meine Praxis zu einer Erstkonsultation aufsuchen, bringen sie zwei Stunden Zeit mit. Nach der persönlichen Begrüßung und kurzen Einweisung in den Ablauf füllen sie bei einer Tasse Kräutertee in aller Ruhe einen dreiseitigen Aufnahmebogen aus.

Dieser erhebt Daten zur Person, gesundheitliche Parameter (zum Beispiel die aktuelle Medikamenteneinnahme, bisherige Operationen, Allergien und Unverträglichkeiten, Körper- oder Psychotherapien in der Vergangenheit) und grundlegende Informationen zur gegenwärtigen Ernährung (zum Beispiel das bislang verfolgte Ernährungssystem, Anzahl und Inhalte von Mahlzeiten und Getränken) und Lebensweise (zum Beispiel Arbeits- und Freizeiten, Schlafgewohnheiten und Bewegung).

Der Aufnahmebogen entlastet zeitlich die dann folgende persönliche Befragung erheblich. Ich empfehle allerdings, lediglich konkrete Daten und Fakten über Fragebögen zu entnehmen und alle intimen, sensiblen Informationen im direkten Gespräch zu erfassen.

Nach 15-20 Minuten bitte ich den Patienten in mein Sprechzimmer.

Das Anamnesegespräch

Was führt Sie zu mir? Diese Frage bevorzuge ich als Einleitung meines Anamnesegesprächs, das sich aus 7 Anamnesebereichen zusammensetzt:

  • Die Beschwerdeanamnese erfasst aktuelle Symptome anhand aller W-Fragen: Seit wann? Weshalb entstanden? Wo lokalisiert? Wie charakterisiert? Was verbessert, was verschlechtert?
  • Die Therapieanamnese erfasst bislang erfolgte Maßnahmen und deren Ergebnisse.
  • Die vegetative Anamnese umfasst die wichtigsten physiologischen Parameter wie Appetit, Durst, Stuhl- und Harnentleerung, Menstruation, Sexualität, Temperaturempfinden und Schweißverhalten sowie Schlafarchitektur und Energieniveau.
  • Die Systemanamnese deckt bislang nicht erwähnte Auffälligkeiten im Rahmen eines Kopf-Fuß-Schemas ab. Die Orientierung kann entweder an westlichen Organsystemen oder an den ayurvedischen Strukturen (Gewebe, Zirkulationsbahnen) erfolgen.
  • Die Familienanamnese erfasst den gesundheitlichen Status von Eltern, Großeltern, Geschwistern und Kindern und mögliche Hinweise auf erbliche Prädispositionen.
  • Die biographische Anamnese widmet sich der Aufnahme bedeutender Ereignisse in einzelnen Lebensphasen und beinhaltet Informationen zum Berufsleben, sozialen Beziehungen, akuten und chronischen Stressbelastungen.
  • Die spirituelle Anamnese ermittelt persönliche Werte, Überzeugungen und Glaubenssätze und deren Bedeutung für die gemeinsame Therapie.

Als Therapeut sind wir im Aufnahmemodus, hören aufmerksam zu und fragen gezielt nach. Nach der Aufnahme aller Symptome (das klinische Bild = Linga) stellen wir uns die Frage, welche Ursachen (Hetu) ayurvedisch erkennbar sind und wie sich die Beschwerden entwickelt haben (Pathogenese = Samprapti).

Ayurveda Diagnostik basiert vorrangig auf der Zuordnung von ermittelten Eigenschaften (Guna) aus der Anamnese und Untersuchung zu den Tridosha Vata, Pitta und Kapha sowie Agni, dem Körperfeuer. Besondere Aufmerksamkeit widmen wir daher den Wie- und den Was-verbessert / Was-verschlechtert-Fragen. Diese führen uns direkt zu den Guna.

Die Dauer eines Erstanamnesegesprächs variiert gemäß Anliegen zwischen 60-90 Minuten. Daran schließt sich die körperliche Untersuchung an.

Zuletzt fasse ich alle diagnostischen Erkenntnisse für den Patienten in verständlicher Sprache zusammen und stimme gemeinsam die ersten drei Behandlungsziele ab, an denen wir den Erfolg unserer Therapie messen können.

Der Therapieplan

Die Erstellung eines schriftlichen Befundberichtes und Therapieplans kann nun entweder direkt erfolgen oder innerhalb einer Woche postalisch nachgereicht werden. Ich bevorzuge meist die direkte Variante. Hierbei hat der Patient etwa eine halbe Stunde Pause, in der er entspannen und das Gespräch noch einmal reflektieren kann.

Der Therapieplan umfasst bedarfsgemäß alle acht Säulen der Ayurvedamedizin:

  • Empfehlungen zur konstitutions- und zustandsgerechten Ernährung
  • Maßnahmen zur gezielten Lebensstiländerung
  • Rezept über Nahrungsergänzungsmittel aus dem ayurvedischen Formenkreis
  • Integration von Ausleitungsverfahren in ambulanter oder stationärer Durchführung
  • Anwendung von Manualtherapien wie Massagen, Ölungen und Hydrotherapie
  • Stellungnahme zu möglichen operativen Eingriffen aus ayurvedischer Sicht
  • Psychosomatische und somatopsychische Interventionen
  • Subtile Verfahren zur Stärkung von Vertrauen und Einbeziehung des großen Ganzen

Nach Klärung aller offenen Fragen kann die Therapie beginnen. Wir stimmen einen Folgetermin zur Auswertung der erfolgten Maßnahmen in 3-6 Wochen ab und klären mögliche Kommunikationswege bei kurzfristig erforderlichen Rückfragen.

Eine erfolgreiche Behandlung ist nicht nur das Ergebnis angewandter Therapiemaßnahmen. Die Kraft der Heilung wird maßgeblich durch die Beziehung des Patienten zum Therapeuten beeinflusst. Unsere einfühlsame Anamnese schafft hierfür eine wesentliche Grundlage. Die dafür erforderliche Zeit ist Gold wert.

Mit den besten Wünschen für Ihre Gesundheit,

Ralph Steuernagel

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